Der Marxismus und Russland

40 Jahre organischer Bewertung der Ereignisse Russlands in der sozial und historisch dramatischen internationalen Entwicklung

( Artikel veröffentlicht in der Broschüre »Revolution und Konterrevolution in Russland«, 1976 - Broschüre Nr. 3 der Reihe »Texte der Internationalen Kommunistischen Partei« (*) ).

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»Der Marxismus und Russland« wurde auf Deutsch in zwei Broschüren veröffentlicht. Die erste im Jahr 1972 und die nächste im Jahr 1976 , beide unter dem Titel: »Revolution und Konterrevolution in Russland«. In beiden Broschüren wurde auch der Artikel »Warum Russland nicht sozialistisch ist« veröffentlicht. Die Auflage von 1972 enthielt zusätzlich »Acht kurze Thesen über Russland«.

Nach dem Text »Der Marxismus und Russland« veröffentlichen wir seine Einleitung, die in der Ausgabe von 1976 von »Revolution und Konterrevolution in Russland« erschienen ist.

 

- Der Marxismus und Russland

- Einleitung zur zweiten Auflage, 1976

 

 

 

 Der Marxismus und Russland

40 Jahre organischer Bewertung der Ereignisse Russlands in der sozial und historisch dramatischen internationalen Entwicklung

 

INHALT :

 

A. Russland gegen Europa im 19. Jahrhundert

B. Die Perspektiven des Untergangs des letzten Feudalismus

C. Die unauslöschliche russische Etappe der proletarischen Weltrevolution

D. Die verhängnisvolle Parabel der abgebrochenen Revolution

 

 

A. Russland gegen Europa im 19. Jahrhundert

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1. Die falsche Auffassung zu widerlegen, die theoretischen Sätze des historischen Materialismus seien nicht auf Russland anwendbar, war das Ziel der marxistischen Sozialisten in der ersten Auseinandersetzung um die »Rolle« Russlands in der europäischen Politik. Marx’ Analyse der zuerst in England sich durchsetzenden kapitalistischen Produktionsweise führte zu gesellschaftlichen Folgerungen universeller Tragweite, die vom marxistischen Internationalismus nach Frankreich, Deutschland und Amerika hineingetragen wurden. Für die Marxisten gab es keinen Zweifel, dass derselbe Schlüssel historischer Analysen auch die Tür Russlands zu öffnen ermöglichte, die nach der Niederlage der napoleonischen Bajonette anscheinend für immer der kapitalistischen Gesellschaft vor der Nase zugeschlagen war, um so die gesamte historische Entwicklung um ein Jahrhundert zu verzögern.

 

2. Wie für alle europäischen Länder erwartete und verfocht der Marxismus für Russland eine bürgerliche Revolution vom Typ der grossen Revolutionen in England und in Frankreich. 1848 erschütterte diese Revolution ganz Europa, aber ihr gegenüber stand Russland als Bollwerk der antikapitalistischen und antiliberalen Reaktion. Dies war für uns ein zusätzlicher Grund, die von uns vorhergesehene Umwälzung der feudalen Produktionsweise zu fordern.

In der Phase der bürgerlich-nationalen Einheitskriege in Europa, die 1871 abschliesst, wurde jeder Krieg insofern als nützliche Entwicklung eingeschätzt, als er zur Niederlage und zum Zusammenbruch des Petersburger Regimes beitragen könnte. Marx wurde deshalb beschuldigt, Agent des antirussischen Pangermanismus zu sein. Marx wünschte aber die Niederlage des Zarismus herbei, weil eben dessen Fortbestehen – wie wir gesehen haben – nicht allein für die bürgerliche Revolution ein Hindernis war, sondern auch für eine spätere Arbeiterrevolution in Europa. Wie es das klassische Beispiel Polens zeigt, versicherte die erste Arbeiter-Internationale den Bewegungen der vom Zar unterdrückten Nationalitäten ihre volle Unterstützung.

 

3. In der marxistischen Geschichtsauffassung bedeutet das Jahr 1871 den Abschluss einer Phase in Europa, in deren Verlauf die Sozialisten gleichermassen die zur Herausbildung der modernen Staaten führenden nationalen Kriege sowie die auf nationale Wiedergeburt zielenden Bewegungen innerhalb verschiedener Länder und die liberalen Revolutionen unterstützten.

Zu dem Zeitpunkt beherrscht das Hindernis Russland den Horizont. Solange es nicht niedergeworfen ist, wird es weiterhin den Arbeiteraufständen gegen die »Konföderation der europäischen Armeen« den Weg versperren, wird es seine Kosaken nicht nur zur Verteidigung der heiligen Kaiserreiche, sondern der parlamentarischen kapitalistischen Demokratien entsenden, deren Zyklus im Westen abgeschlossen war.

 

4. Der Marxismus beginnt sehr bald, sich mit den »gesellschaftlichen Fragen« Russlands zu beschäftigen. Er untersucht seine ökonomische Struktur, verfolgt die Entwicklung der Klassengegensätze. All dies hindert ihn aber in keiner Weise daran, in erster Linie die internationalen Kräfteverhältnisse zu berücksichtigen, um den Verlauf der sozialen Revolution zu bestimmen, wie zu lesen im gigantischen Werk von Marx über die Phasen und Bedingungen des internationalen revolutionären Prozesses, dessen sozialer Reifegrad im internationalen Massstab zum Ausdruck kommt.

Sogleich erhebt sich eine Frage: Ist es nicht möglich, die historische Entwicklung abzukürzen, die in Russland noch nicht das Stadium erreicht hat, das seit Beginn des 19. Jahrhunderts oder seit 1848 im übrigen Europa sich herausgebildet hat? Marx beantwortete diese Frage einmal 1877 in einem Brief an eine Zeitschrift, dann 1882 im Vorwort zu Wera Sassulitschs Übersetzung des »Kommunistischen Manifestes«.

Ist es möglich, in Russland die kapitalistische Produktionsweise zu überspringen? Die Antwort von 1877 ist zum Teil positiv: »Wenn die russische Revolution das Signal zu einer Arbeiterrevolution im Westen wird, so dass sich beide einander ergänzen, dann kann das heutige russische Gemeineigentum zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen«. In der Antwort von 1882 hingegen, die sich auf die bürgerliche Agrarreform von 1861 bezog, welche die Leibeigenschaft aufhob, jedoch vor allem zur vollständigen Auflösung des naturwüchsigen Kommunismus der Bauerndörfer führte, erklärte Marx diese Möglichkeit für verspielt. Zusammen mit Engels brandmarkte er Bakunin, der sich zum Apologeten dieser Reform gemacht hatte: »Wenn Russland weiter auf dem Wege verharrt, den es seit 1861 verfolgt, so wird es die schönste Chance verlieren, die die Geschichte jemals einem Volk dargeboten hat, um dafür alle verhängnisvollen Wechselfälle des kapitalistischen Regimes durchzumachen!«

Das ist alles, schloss Marx brutal. Da die proletarische Revolution in Europa nicht eingetreten ist und verraten wurde, ist das heutige Russland der kapitalistischen Barbarei zum Opfer gefallen: das ist alles…

Engels’ Schriften über den kommunistischen Mir in Russland bezeugen, dass seit 1875 und weitaus stärker 1894 (1) die kapitalistische Produktionsweise die Partie gewonnen hatte. Seither ist sie nicht nur in den Städten vorherrschend, sondern auch in einigen Gebieten des russischen flachen Landes, und dies unter der zaristischen Herrschaft.

 

5. In Russland entstand die kapitalistische Industrie mit Hilfe direkter staatlicher Investitionen und weniger durch eine ursprüngliche Akkumulation. Zusammen mit ihr entstand das städtische Proletariat und die marxistische Arbeiterpartei. Genau wie die ersten Marxisten in Deutschland vor 1848 wird diese Partei vor das Problem einer doppelten Revolution gestellt. Ihre theoretische Linie (zuerst von Plechanow, dann von Lenin und den Bolschewiki vertreten) stimmt vollkommen überein mit der des europäischen und internationalen Marxismus, vor allem in der Agrarfrage, die in Russland von ausschlaggebender Wichtigkeit ist.

Welchen Beitrag werden in dieser doppelten Revolution die ländlichen Klassen leisten, die leibeigenen und die verelendeten, obwohl dem Gesetz nach freien Bauern, deren Lebensbedingungen sich jedoch im Vergleich zum reinen Feudalismus verschlechtert haben? Überall haben Leibeigene und Kleinbauern im historischen Verlauf die bürgerlichen Revolutionen unterstützt und sich immer gegen die Privilegien des Agraradels erhoben. In Russland zeigt der Feudalismus die Besonderheit, nicht zentrifugal zu sein wie sonst in Europa und besonders in Deutschland: Staatsgewalt und nationale Armee sind dort seit Jahrhunderten effektiv zentralisiert. Historisch gesehen, und bis ins 19. Jahrhundert hinein, ist diese Bedingung als progressiv zu betrachten, und zwar nicht allein unter politischen und historischen Gesichtspunkten (im Hinblick auf den Ursprung von Armee, Monarchie und Staat, die von aussen importiert wurden), sondern auch unter gesellschaftlichem Aspekt. Der Staat, die Krone (sowie nicht minder zentralisierte religiöse Gemeinschaften) besitzen mehr an Land und Leibeigenen als der Agraradel: von daher die Definition Staatsfeudalismus, die auf Russland angewandt wird. Ein derartiger Feudalismus hatte sich als fähig erwiesen, dem Stoss der demokratischen Armeen Frankreichs zu widerstehen: lange Jahre hindurch ging Marx soweit, an die europäischen Armeen, die türkischen und die deutschen, zu appellieren, um ihn zu zerstören.

Im Wesentlichen ist der Weg vom Staatsfeudalismus zum Staatskapitalismus in Russland weniger lang gewesen als in Europa der Weg vom molekularen Feudalismus zu den zentralisierten bürgerlichen Staaten sowie vom ersten autonomen Kapitalismus zum konzentrierten und imperialistischen Kapitalismus.

 

 

B. Die Perspektiven des Untergangs des letzten Feudalismus

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6. Diese jahrhundertealten gesellschaftlichen Formen erklären, warum sich in Russland im Gegensatz zu Europa keine mächtige Bourgeoisklasse herausgebildet hat. Entsprechend schwieriger als in Deutschland 1848 erschien dort das Aufpfropfen der proletarischen Revolution auf die bürgerliche Revolution, wie es die Marxisten erwarteten.

Im Unterschied zu England hatte sich die deutsche revolutionäre Tradition völlig in der kirchlichen Reformation erschöpft. Als Engels deren Schwäche im 19. Jahrhundert feststellte, wandte er seine Aufmerksamkeit den Bauern zu, deren historischen Krieg von 1525 mit der furchtbaren Niederlage im Gefolge er nachzeichnete, einer Niederlage, die die Bauern der Feigheit des städtischen Bürgertums, des protestantischen Klerus und auch des Kleinadels verdankten.

Konnte in Russland (wo ein Kleinadel und ein rebellischer Klerus ebenso fehlten) die Bauernklasse die Ersatzrolle einer politisch nicht vorhandenen Bourgeoisie spielen? Dies war der erste Streitpunkt, um den die Marxisten theoretisch und praktisch gegen alle anderen Parteien in den Kampf stiegen. Gemäss der Formel unserer Gegner sollte die russische Revolution weder eine bürgerliche, noch eine proletarische, sondern eine Bauernrevolution sein. Wir definierten die Bauernrevolution als einen blossen »Doppelgänger« der städtisch-bürgerlichen Revolution. Der »Bauernsozialismus« ist eine monströse Perspektive, die der Marxismus immer wieder im Verlauf eines Jahrhunderts von Polemiken und Klassenkämpfen zurückgewiesen hat. Unsere Gegner verfochten, dass in Russland ein derartiger Sozialismus aus der Erhebung der ärmsten und landlosen Bauern hervorgehen könne, mit dem Ziel, zu einer utopisch egalitären Landaufteilung zu gelangen. Ihnen zufolge hätten die Ohnmacht der Bourgeoisie und die Jugendlichkeit des Proletariats es der armen Bauernschaft erlaubt, anstelle der städtischen Klassen zur vorherrschenden Kontrolle des Staats zu gelangen. Sie ahnten nichts von der grossartigen Energie, die die russische Arbeiterklasse aus ihrer Eigenschaft als Sektion des europäischen Proletariats zog. Die Bourgeoisie entsteht im nationalen Rahmen und überträgt keine Energie über die Grenzen hinweg; das Proletariat selbst entsteht international und ist als Klasse in allen »ausländischen« Revolutionen anwesend; die Bauernschaft schliesslich erreicht nicht einmal die Stufe der Nation.

Auf dieser Grundlage entstand bei Lenin die marxistische Theorie der russischen Revolution, als deren Subjekt er nicht die nationale Bourgeoisie und die Bauernschaft, sondern das Proletariat bezeichnete.

 

7. Die Agrarfrage und die politische Frage waren die beiden grossen Fragen der russischen Revolution.

In der ersten waren die Narodniki-Volkstümler und die Sozialrevolutionäre Anhänger der Aufteilung des Grundbesitzes; die Menschewiki Anhänger der Verwandlung des privaten Grundbesitzes in Gemeindeeigentum, während die Bolschewiki für die Nationalisierung des Grundbesitzes eintraten. Alle drei sind Forderungen einer bürgerlich-demokratischen Revolution, sagte Lenin, nicht einer sozialistischen. Lenin sagt selbst (»Zwei Taktiken…«): »Die Idee der Nationalisierung des Bodens ist also eine Kategorie der warenproduzierenden und kapitalistischen Gesellschaft.»

Die dritte Auffassung war jedoch die fortgeschrittenste, weil sie die besten Bedingungen für einen proletarischen Kommunismus schuf. Im heutigen Russland ist nur der in Sowchosen organisierte Teil der Landwirtschaft nationalisiert, und es ist zudem der kleinste. Der Rest bleibt noch weit zurück.

Was nun die Frage der Macht betrifft, so sind die Menschewiki dafür, die Bourgeoisie die Macht ergreifen zu lassen, um dann selbst in die Opposition zu gehen (1917 werden sie aber in der bürgerlichen Regierung zusammenarbeiten). Die Volkstümler sind für eine illusorische Bauernregierung (mit Kerenski werden sie dasselbe Ende wie die Menschewiki nehmen). Die Bolschewiki sind für die Eroberung der Macht und eine demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauern. Die folgenden Worte Lenins erklären das Adjektiv »demokratisch« und das Substantiv »Bauern«: »Ein solcher Sieg wird aus unserer bürgerlichen Revolution noch keineswegs eine sozialistische machen. (…) Jene ökonomischen Umgestaltungen, die für Russland notwendig geworden sind, bedeuten an und für sich nicht nur keine Untergrabung des Kapitalismus (…) sondern, dass sie umgekehrt zum ersten Mal gründlich den Boden für eine breite und rasche, europäische und nicht asiatische Entwicklung des Kapitalismus säubern. (…) Dieser Sieg (wird) uns die Möglichkeit geben, Europa zur Erhebung zu bringen, und das sozialistische Proletariat Europas [wird] uns, nachdem es das Joch der Bourgeoisie abgeschüttelt hat, seinerseits helfen, die sozialistische Umwälzung zu vollbringen« (2).

Was ist dann mit den verbündeten Bauern zu tun? Lenins Antwort ist klar. Marx hatte bereits gesagt, dass die Bauern die »natürlichsten Bundesgenossen« der Bourgeoisie seien. Lenin schreibt:
»(Im wirklichen und entscheidenden Kampf für den Sozialismus) wird die Bauernschaft als grundbesitzende Klasse (…) dieselbe verräterische, schwankende Rolle spielen, wie die Bourgeoisie sie jetzt im Kampf für die Demokratie spielt« (3).

Lenins Formel lautete: Diktatorische Eroberung der Macht in der bürgerlichen Revolution gegen die Bourgeoisie selbst mit Unterstützung allein der Bauern. Diese Formel stützte Lenin mit einem doppelten Argument: Man musste zur proletarischen Revolution in Europa gelangen, da ohne diese Bedingung der Sozialismus in Russland nicht siegen könnte; man musste die Restauration des Zarismus verhindern, der im gegenteiligen Fall seine traditionelle Rolle der Weissen Garde Europas wiederangenomnmen hätte.

 

 

C. Die unauslöschliche russische Etappe der proletarischen Weltrevolution

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8. 1914 bricht der von Marx vorhergesehene Krieg zwischen Deutschland und den vereinten slawischen und romanischen Rassen aus, und aus den Niederlagen des Zaren entsteht die russische Revolution.

Russland war damals der Verbündete der demokratischen Mächte: Frankreich, England und Italien. In den Augen der Kapitalisten, Demokraten und Sozialverräter, die den gegen Deutschland gerichteten Krieg unterstützten, war der Zar zu einem Feind geworden, den man niederwerfen musste, weil sie ihn für unfähig hielten, den Krieg zu führen oder ihn verdächtigten, sich insgeheim auf ein Bündnis mit den Deutschen vorzubereiten. So wurde die erste Revolution im Februar 1917 vom einstimmigen Beifall der patriotischen Demokraten und Sozialisten begrüsst. Sie schrieben diese Revolution nicht so sehr der Kriegsmüdigkeit der Massen und besonders der Soldaten zu, sondern dem geschickten Manövrieren der alliierten Botschafter. Obwohl die russischen Rechtssozialisten nicht mehrheitlich dem Krieg zugestimmt hatten, traten sie sogleich für eine provisorische Regierung ein, die den Krieg im Einvernehmen mit den fremden Mächten fortsetzen sollte. Auf dieser Basis gelangten sie zum Kompromiss mit den bürgerlichen Parteien.

Zunächst erst zögernd, bereitete sich die bolschewistische Partei nach der Rückkehr Lenins und der anderen Führer des Jahres 1917 sowie nach dem vollen Beitritt Trotzkis jedoch mit allen Kräften darauf vor, diese von Menschewiken und Volkstümlern unterstützte Regierung zu stürzen.

 

9. Die Eroberung der Macht durch die kommunistische Partei war das Ergebnis der Niederlage aller anderen Parteien, sowohl der bürgerlichen als auch der angeblichen »Arbeiter«- und »Bauern«-Parteien (die dabei waren, den Krieg an der Seite der Alliierten fortzusetzen) im Verlauf des Klassenkrieges. Vervollständigt wurde diese Machtergreifung durch die Niederlage der versöhnlerischen Parteien vor den Bolschewiki im All-russischen Sowjet – eine Ergänzung ihrer Niederlage an der Seite ihrer nichtsowjetischen Verbündeten in den Strassenkämpfen – und durch die Vertreibung der von der provisorischen Regierung einberufenen verfassungsgebenden Versammlung, sowie schliesslich durch den Bruch der Bolschewiki mit dem letzten Verbündeten, der Partei der linken Sozialrevolutionäre, die den »Heiligen Krieg« gegen die Deutschen befürworteten und einen starken Einfluss auf dem Lande hatten.

Dies war ein riesiger Sprung, der nicht ohne tiefgreifende Kämpfe im Innern der Partei selbst ablief. Historisch besehen endete er erst nach rund vier Jahren eines schrecklichen Bürgerkriegs mit der Niederlage der konterrevolutionären Armeen. Diese umfassten zugleich die Streitkräfte des feudalen und monarchistischen Adels, die vor und nach dem Frieden von Brest-Litowsk (1918) von Deutschland gegen die Revolution aufgestellten Truppen und schliesslich die von den demokratischen Mächten mit grossem Einsatz mobilisierten Kräfte, darunter auch die polnische Armee.

In dieser Zeit folgten in Europa nur missglückte Versuche der Machteroberung durch die Arbeiterklasse aufeinander, die sich enthusiastisch mit der russischen Revolution solidarisierte. Die nach dem militärischen Zusammenbruch Deutschlands und dem Sturz des Kaisers erfolgte Niederlage der deutschen Kommunisten im Januar 1919 bildete den ersten, schwerwiegenden Bruch in der Verwirklichung der historischen Perspektive, die Lenin aufgestellt hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich diese Linie grossartig bewahrheitet, vor allem in der Annahme des Friedensdiktats von Brest-Litowsk im März 1918 durch die Bolschewiki; einer entscheidenden Lösung, die von den Demokraten der ganzen Welt dümmlich als Verrat bezeichnet wurde.

Die darauffolgenden Jahre bestätigen, dass nicht mit der Hilfe eines siegreichen europäischen Proletariats für die erschreckend desorganisierte russische Wirtschaft gerechnet werden konnte. Danach wurde die Macht in Russland fest verteidigt und gerettet. Von nun an war es jedoch nicht mehr möglich, die ökonomische und gesellschaftliche Frage Russlands entsprechend den Vorhersagen aller Marxisten zu regeln, nämlich durch die Unterwerfung der selbst nach dein Kriege überreichlich vorhandenen Produktivkräfte Europas unter die Diktatur der internationalen kommunistischen Partei.

 

10. In Übereinstimmung mit allen echten Marxisten unter den Bolschewiki hatte Lenin immer – und dies bis zu seinem Tod – die Möglichkeit ausgeschlossen, dass die russische Gesellschaft einen sozialistischen Charakter annehmen könne, wenn die russische Revolution nicht auf Europa zurückwirkte und eben die Wirtschaft dort weiterhin kapitalistisch blieb. Das hinderte Lenin nicht, immer wieder zu Recht zu betonen, dass in Russland die proletarische Partei, unterstützt von den Bauern, die Macht ergreifen und sie auf diktatorische Weise aufrechterhalten musste.

Zwei geschichtliche Fragen erheben sich hier. Kann man eine Revolution als sozialistisch definieren, die – wie Lenin vorhergesehen hatte – in Erwartung neuer internationaler Siege eine Macht schuf, die zur Verwaltung privatwirtschaftlicher Gesellschaftsformen gezwungen ist, wenn diese Siege nicht eingetreten sind?

Die zweite Frage bezieht sich auf die auszuhaltende Dauer einer solchen Lage und ob es andere Alternativen als die offene politische Konterrevolution, als die unmaskierte Rückkehr der nationalen Bourgeoisie zur Macht, gäbe.

Für uns war die Oktoberrevolution sozialistisch. Als Alternative zum Sieg der bewaffneten Konterrevolution, der nicht eintrat, blieb nicht nur ein Weg offen. Zwei Wege sind möglich: entweder degeneriert der Machtapparat (Staat und Partei), indem er sich politisch der Verwaltung kapitalistischer Formen anpasst, d. h. offen Verzicht leistet, die Weltrevolution zu erwarten (und dies ist eingetreten); oder die marxistische Partei hält sich vielmehr auf lange Zeit an der Macht und setzt sich dafür ein, den revolutionären proletarischen Kampf im gesamten übrigen Ausland direkt zu unterstützen, wobei sie mit demselben Mut wie Lenin zugibt, dass die Gesellschaftsformen im Innern Russlands weitgehend kapitalistisch – ja selbst vorkapitalistisch – bleiben.

Man muss zunächst die erste Frage untersuchen. Die zweite ist mit der Analyse der Gesellschaftsstruktur des heutigen Russlands verknüpft, die fälschlich als sozialistisch gepriesen wird.

 

11. Die Oktoberrevolution darf nicht an erster Stelle unter dem Gesichtspunkt unmittelbarer oder äusserst schnell ablaufender Veränderungen der Produktionsformen und der ökonomischen Struktur betrachtet werden, sondern als eine Phase des internationalen politischen Kampfes des Proletariats. Sie weist in der Tat eine Reihe von hervorstechenden Merkmalen auf, die den Rahmen einer nationalen und rein antifeudalen Revolution total sprengen und sich nicht auf die Tatsache beschränken, dass sie von der proletarischen Partei geführt wurde.

a) Lenin hatte festgestellt, dass der Weltkrieg »selbst für Russland« einen imperialistischen Charakter angenommen hatte, so dass folglich die proletarische Partei offen defätistisch handeln müsse, und zwar genauso wie im russisch-japanischen Krieg, der die revolutionären Kämpfe von 1905 hervorgerufen hatte. Dieser Defätismus hing nicht damit zusammen, dass der russische Staat nicht demokratisch war, sondern hatte dieselben Gründe wie in den anderen Ländern, wo die sozialistischen Parteien gleichermassen die Pflicht hatten, defätistisch zu handeln. Kapitalismus und Industrie waren in Russland zu unzureichend entwickelt, um eine Grundlage für den Sozialismus abzugeben. Der gegebene Entwicklungsgrad war aber ausreichend, um dem Krieg einen imperialistischen Charakter zu verleihen. Die Verräter am revolutionären Sozialismus, die unter dem Vorwand, die Demokratie »im allgemeinen« (hier gegen die deutsche, dort gegen die russische Gefahr) zu verteidigen, die Sache der imperialistischen Bourgeoisien zu ihrer eigenen gemacht hatten, verdammten die Bolschewiki, weil sie den Krieg beendet und die Militärbündnisse liquidiert hatten. Diese Verräter versuchten, der Oktoberrevolution in den Rücken zu fallen. Gegen sie, gegen den Krieg, gegen den Weltimperialismus siegte der Oktober. Es war ein rein proletarischer und kommunistischer Sieg.

b) Die Oktoberrevolution überwand siegreich die Anschläge der Verräter, machte dadurch die vergessenen Lehren der Revolution wieder geltend und stellte die marxistische Theorie wieder her, deren Ruin die Verräter des Sozialismus beabsichtigten. Der Weg des Siegs über die Bourgeoisie wurde durch den Oktober für alle Nationen geltend definiert: Anwendung von Gewalt und revolutionärem Terror, Zerfetzung der »demokratischen Garantien« und als wesentlicher Begriff des Marxismus unbegrenzte Ausübung der Diktatur der Arbeiterklasse durch die kommunistische Partei. Die Oktoberrevolution brandmarkte jeden als Idiot, der hinter der Diktatur die Macht eines einzelnen Menschen sieht, und als noch grössere Idioten diejenigen, die, vor der »Tyrannei« zitternd, wie alle demokratischen Huren nur die utopische Macht einer formlosen, nicht organisierten, nicht – wie unsere Texte eines ganzen Jahrhunderts fordern – als Partei gebildeten Klasse anerkennen.

c) Obwohl die Arbeiterklasse auf der politischen Bühne (schlimmer noch, der parlamentarischen Bühne) in der künstlichen Teilung in mehrere Parteien aufgetreten ist, hat die unzerstörte Lehre des Oktobers gezeigt: der revolutionäre Weg führt nicht über die gemeinsame Machtausübung mit diesen Dienern des Kapitalismus, sondern über ihre nacheinander erfolgende gewaltsame Vernichtung bis hin zur totalen Macht der einzigen proletarischen Partei.

Die äusserste Wichtigkeit dieser drei Punkte besteht darin, dass das Überleben eines mittelalterlichen Despotismus in Russland eine Ausnahme im Vergleich zu den entwickelten bürgerlichen Ländern hätte erklärbar machen können. Die Welt erlebte jedoch unter Angst und Schrecken oder voll Begeisterung, dass der Weg der russischen Revolution den einzigen und universellen Weg bestätigte, den die marxistische Theorie vorzeichnet. Lenin und die grossartige bolschewistische Partei sind weder im Denken noch im Handeln je davon abgewichen.

Und wer beutet die Namen Lenins und des Bolschewismus heute aus? Es sind Leute, die sich dafür entschuldigen, dass Russland »genötigt« gewesen sei, aufgrund besonderer Umstände und »lokaler« Bedingungen diese »Wege« einzuschlagen. Diese Leute geben so die nichtswürdige Beschämung preis, die ihnen diese glänzende Revolution einflösst, die zu feiern sie ostentativ vorgeben! Als sei dies ihre Mission, als läge es in ihrer Macht, versprechen diese Leute, die anderen Länder auf anderen, je nach Nation verschiedenen Wegen zum Sozialismus gelangen zu lassen; auf Wegen, die ihr Verrat und ihre Infamie mit dem Dreck pflastert, den der Opportunismus zusammenzubacken imstande ist: Freiheit, Demokratie, Pazifismus, Koexistenz und Wettbewerb des Einholens und Überholens.

Für Lenin war die Revolution im Westen der Sauerstoff, den der Sozialismus in Russland nötig hatte. Für jene Leute, die am 7. November vor seinem törichten Mausoleum vorbeiparadieren, ist das Prosperieren des Weltkapitalismus der Sauerstoff, den sie brauchen, um mit ihm zu koexistieren und herumzuhuren.

 

 

D. Die verhängnisvolle Parabel der abgebrochenen Revolution

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12. Die zweite Frage betrifft die ökonomische Struktur Russlands beim Sieg der Oktoberrevolution. Die wesentlichen Elemente der Antwort hat Lenin in grundlegenden Texten festgehalten. Es genügt nicht, einige Zitate aus ihnen herauszuklauben, sie müssen vielmehr in weitestgehender Form herangezogen werden. Alle leninschen Formeln müssen auf die Umweltbedingungen Russlands und die Kräfteverhältnisse in ihrem geschichtlichen Ablauf bezogen werden.

Als »Doppelrevolution« musste die russische Revolution drei historische Produktionsweisen auftreten lassen, wie es in Deutschland vor 1848 der Fall war. In der klassischen Anschauung des Marxismus traten in Deutschland drei Kräfte auf den Plan: das mittelalterliche aristokratisch-militärische Imperium, die kapitalistische Bourgeoisie und das Proletariat, d. h. Leibeigenschaft, Lohnarbeit und Sozialismus. Damals war die industrielle Entwicklung in Deutschland wenn nicht qualitativ, so doch quantitativ eng begrenzt. Dennoch führte Marx den Sozialismus als dritten Faktor ein, weil die technisch-ökonomischen Bedingungen der dritten Produktionsweise bereits vollständig in England vorhanden waren, während die politischen Bedingungen in Frankreich vorzuliegen schienen. Im europäischen Massstab war also eine sozialistische Perspektive gegeben. Der Gedanke an einen raschen Sturz der absolutistischen Macht zugunsten der Bourgeoisie in Deutschland und eines darauffolgenden Angriffs des jungen Proletariats gegen sie war verknüpft mit der Möglichkeit eines Siegs der Arbeiter in Frankreich. Hier sollte nach dem Fall der Bourgeoismonarchie von 1831 das Proletariat von Paris und der Provinz eine Schlacht schlagen, die es grosszügig durchkämpfte und unglücklicherweise verlor.

Die grossen revolutionären Zielvorstellungen sind auch dann fruchtbar, wenn die Geschichte ihre Verwirklichung auf später verschiebt.

Nach Marx hätte Frankreich mit der Errichtung der Arbeiterdiktatur in Paris die Politik gegeben, so wie dies 1831 und 1848 versucht und 1871 verwirklicht wurde, wo diese Diktatur im heldenhaften bewaffneten Kampf unterlag. England hätte die Ökonomie und Deutschland die Theorie gegeben, die Leo Trotzki dann unter ihrer klassischen Bezeichnung »permanente Revolution« auf Russland übertrug. Bei Marx wie bei Trotzki erweist sich die Permanenz der Revolution im internationalen Zusammenhang, nicht auf der armseligen Stufe einer Nation. Der ideologische Terrorismus der Stalinisten hat die permanente Revolution verurteilt, aber sie selbst haben sie in einer leeren und mit Patriotismus durchtränkten Parodie nachgeäfft.

In den Zielvorstellungen Lenins (die wir, ihm folgend, uns zu eigen machten) musste 1917 das revolutionäre Russland (industriell rückständig wie Deutschland 1848) mit der Flamme der politischen Revolution und ihrer ganzen Kraft die grosse Theorie erneut entfachen, die in Europa und in der Welt gross geworden war. Das besiegte Deutschland hätte die Produktivkräfte, das ökonomische Potential geliefert. Der Rest des arg geplagten Mitteleuropa wäre gefolgt. Eine zweite Welle würde die »Siegermächte« überschwemmen: Frankreich, Italien (wo wir seit 1919 die Revolution erwarteten und vorbereiteten), England, die USA und Japan.

In der Achse Russland-Mitteleuropa hätte aber die Entwicklung der Produktivkräfte in Richtung auf den Sozialismus keine Hindernisse mehr vorgefunden; nur die Diktatur der kommunistischen Partei wäre dabei erforderlich gewesen.

 

13. Im Zusammenhang mit dieser knappen Skizze des Ergebnisses unserer Untersuchungen muss die andere Alternative betrachtet werden: Russland allein mit dem politischen Sieg in den Händen. Verglichen mit 1848 eine enorm vorteilhafte Situation, denn damals verblieben alle in den Kampf verwickelten Nationen unter der Kappe des Kapitalismus; Deutschland blieb sogar noch mehr zurück.

Fassen wir in groben Zügen Lenins Perspektive für die inneren Verhältnisse Russlands in Erwartung der Revolution im Westen zusammen. In der Industrie Kontrolle der Produktion und später staatliche Leitung. Das bedeutete zwar die Vernichtung der Privatbourgeoisie und demzufolge den politischen Sieg, andererseits aber auch eine wirtschaftliche Leitung im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise (also Entwicklung der »Grundlagen« des Sozialismus). In der Landwirtschaft Zerstörung aller Formen feudaler Knechtschaftsverhältnisse und genossenschaftliche Leitung der grossen Güter bei einer möglichst geringen Toleranz gegenüber der kleinen Warenproduktion. Diese, die 1917 die vorherrschende Form war, hatte sich durch die Zerstörung der feudalen Produktionsweise (die nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch durchgeführt wurde) verbreiten und festigen können. Selbst die landlosen Landarbeiter, die einzigen »armen Bauern«, an denen Lenin wirklich etwas lag, waren der Zahl nach zurückgegangen, denn die Enteignung der reichen Bauern hatte sie in Eigentümer verwandelt.

Die Frage, wie lange eine solche Situation anhalten konnte, die wir in unseren Arbeiten über Russland in ihren grundlegenden Linien geklärt haben, wurde 1926 in der grossen Diskussion innerhalb der kommunistischen Partei Russlands aufgeworfen. Stalin sagte: wenn der volle Sozialismus hier unmöglich ist, müssen wir die Macht aus den Händen geben. Trotzki dagegen bekräftigte seinen Glauben an die internationale Revolution und betonte, dass man an der Macht auf sie warten müsse, selbst wenn sie erst nach fünfzig Jahren eintrete. Trotzki erhielt als Antwort, dass Lenin von zwanzig Jahren für das isolierte Russland gesprochen habe. In Wirklichkeit hatte Lenin von zwanzig Jahren »guter Beziehungen zu den Bauern« gesprochen. Selbst wenn dann Russland ökonomisch gesehen noch nicht sozialistisch geworden wäre, hätte der Klassenkampf zwischen Arbeitern und Bauern eingesetzt, um die ländliche Kleinstproduktion und den privaten zwerghaften Agrarkapitalismus zu liquidieren, die beide die Kräfte der Revolution aufbrauchten.

Wäre es jedoch zu einer europäischen Arbeiterrevolution gekommen, so hätte der landwirtschaftliche Zwergbesitz (der in seiner gegenwärtigen Kolchosform unausrottbar ist) unverzüglich eine drakonische Behandlung erfahren.

 

14. Die ökonomische Wissenschaft des Marxismus erbringt den Beweis, dass der Stalinismus noch nicht einmal das Ergebnis erreicht hat, das Lenin für zwanzig Jahre später vorhersah. Indessen sind nicht zwanzig, sondern vierzig Jahre vergangen. Die Beziehungen zu den Kolchosbauern sind jedoch so »gut«, wie umgekehrt die Beziehungen zu den Industriearbeitern erbärmlich »schlecht« sind. Unter einem Regime der Lohnarbeit wird die Industrie vom Staat geleitet; die Verkaufsbedingungen der Lohnarbeit sind noch schlechter als unter denen des unverhüllten Kapitalismus. Der Bauer wird gut behandelt als Genossenschaftsmitglied des Kolchosunternehmens (privatkapitalistische und keineswegs staatskapitalistische Form) und besser noch als kleiner verwaltender Nutzniesser von Land und Betriebskapital.

Es erübrigt sich, auf die bürgerlichen Merkmale der Sowjetökonomie hinzuweisen, angefangen vom Handel bis hin zum Erbrecht und den Ersparnissen. Sie hat in keiner Weise den Weg eingeschlagen, den auf dem Geld als allgemeinem Äquivalent beruhenden Warentausch abzuschaffen und die geldlose Entlohnung der Arbeit einzuführen. Das Verhältnis von Arbeitern und Bauern hat zudem eine Entwicklung eingeschlagen, die der Aufhebung des Unterschieds von Industrie- und Landarbeit sowie von geistiger und körperlicher Arbeit entgegengesetzt ist.

Vierzig Jahre sind seit 1917 vergangen. Von vor rund 30 Jahren datiert Trotzkis Einschätzung der Möglichkeit, fünfzig Jahre lang an der Macht zu bleiben (was etwa bis zum Jahr 1975 dauern würde), und die proletarische Revolution ist im Westen nicht eingetreten. Die Mörder Trotzkis und des Bolschewismus haben den Kapitalismus in der Industrie breitangelegt aufgebaut, d. h. sie haben die Grundlagen des Sozialismus geschaffen. Aber nur im begrenzten Umfang sind diese Grundlagen in der Landwirtschaft vorhanden. Was die Liquidierung der stupiden Form des Kolchos anbelangt, so sind die Verhältnisse noch zwanzig Jahre zurück im Vergleich zu den zwanzig Jahren Lenins. Mit dieser Entartungserscheinung des klassischen liberalen Kapitalismus würden sie heute gern – im untergründigen Einvernehmen mit den Kapitalisten jenseits der Grenzen – bis hin zur Industrie alle Formen des Lebens infizieren. Aber man muss nicht bis 1975 warten, um Produktionskrisen auf die beiden »sich einholenden und überholenden« Lager einbranden zu sehen. Diese Krisen werden die privaten Strohschober und Hühnerställe ebenso hinwegfegen wie die Einzelgaragen und alle elenden Einrichtungen des widerlichen häuslichen Ideals des Kolchos, dieses illusorischen Arkadiens eines volkstümlerischen Kapitalismus.

 

15. Eine kürzlich erschienene Studie bürgerlicher Ökonomen in den USA über die internationale Dynamik des Warenaustauschs kalkuliert, dass das gegenwärtige Wettrennen um die Eroberung der Märkte (was sich nach dem zweiten Weltkrieg hinter dem anrüchigen Puritanismus der hilfreichen USA verbarg) im Jahre 1977 einen kritischen Punkt erreichen werde. Zwanzig Jahre trennen uns noch vom neuen Aufflammen der permanenten Revolution im internationalen Massstab und dies deckt sich sowohl mit den Ergebnissen jener so fern liegenden Diskussion von 1926 wie mit den Ergebnissen unserer Untersuchungen.

Eine erneute Niederlage der Arbeiter kann nur unter der Voraussetzung vermieden werden, dass die Wiederherstellung der revolutionären Theorie nicht erst erfolgt, nachdem ein dritter Weltkrieg bereits wieder die Arbeiter hinter alle wohlbekannten fluchwürdigen Fahnen geschart hat (und hier sei an die gigantischen Anstrengungen Lenins ab 1914 erinnert). Es muss möglich sein, dass diese Wiederherstellung der Theorie schon vorher sich entwickelt mit der Organisation einer Weltpartei, die ohne Zögern ihre eigene Diktatur von vornherein anmeldet: in diesem Punkt zu zögern entspricht einer Liquidation. Wer hier nachgibt, kann sich dem Lager all derer anschliessen, die in ihrer Ohnmacht die russische Entwicklung mit Palastrevolutionen von »grossen Männern«, Verrätern, Demagogen und ähnlichen Säbelrasslern erklären.

Im Verlauf der kommenden zwanzig Jahre werden Industrieproduktion und Welthandel eine Krise vom Ausmass der amerikanischen Krise von 1932 kennenlernen, die diesmal den russischen Kapitalismus nicht verschonen wird. Diese Krise wird die Grundlage für die Rückkehr entschlossener, gleichwohl in der Minderheit befindlicher, aber nicht mehr mikroskopischer proletarischer Gruppen auf die marxistischen Positionen abgeben können, weit entfernt von den Positionen der antirussischen Pseudorevolutionen wie in Ungarn, wo Bauern, Studenten und Arbeiter in stalinistischer Manier (d. h. im Namen des »Volkes«) ununterschieden Seite an Seite kämpfen.

Kann man es wagen, die Umrisse der zukünftigen internationalen Revolution zu skizzieren? Das Zentrum dieses Gebietes wird in den Ländern liegen, die auf die Verwüstungen des zweiten Weltkriegs mit einem mächtigen Wiederaufschwung der Produktivkräfte reagierten: in erster Linie Deutschland, Ostdeutschland eingeschlossen, Polen und die Tschechoslowakei. Die erbarmungslose Enteignung aller Besitzer »volkskapitalistischen« Vermögens wird einem proletarischen Aufstand folgen, dessen Kerngebiet zwischen Berlin und dem Rhein liegen wird. Norditalien und der Nordosten Frankreichs werden rasch in die Bewegung einbegriffen werden.

Eine derartige Perspektive wird den geistig Umnebelten nicht zugänglich sein, die keinem der kapitalistischen Länder auch nur eine Stunde des Überlebens zugestehen wollen. Für sie sind alle kapitalistischen Länder gleich und reihenweise zu exekutieren, selbst wenn sie dafür nur über Hinterladerspritzen anstelle von Atomraketen verfügen.

Dass Stalin und seine Nachfolger auf revolutionäre Weise Russland industrialisierten, während sie konterrevolutionär das Weltproletariat kastrierten, wird die kommende Revolution aufzeigen: für sie wird Russland eine Reserve an Produktivkräften und erst später an revolutionären Armeen bereitstellen.

Im Verlauf dieser dritten geschichtlichen Welle der Revolution wird Kontinentaleuropa politisch wie gesellschaftlich kommunistisch werden – oder der letzte Marxist wird vom Erdboden verschwunden sein.

Der englische Kapitalismus hat bereits die Reserven verpulvert, die es ihm erlaubten, wie Marx und Engels aufzeigten, die englischen Arbeiter auf Labour-Art zu verbürgerlichen. Im kommenden entscheidenden Zusammenstoss wird auch der amerikanische Kapitalismus, der zehnfach so blutsaugerisch und unterdrückend ist, dieser Reserven verlustig gehen. Dem schmutzigen Wettbewerb von heute wird das gesellschaftliche mors tua vita mea (dein Tod ist mein Leben) entgegengeschleudert werden.

16. Aus diesem Grund gedachten wir hier nicht so sehr der vergangenen vierzig Jahre, sondern richteten unseren Blick auf die kommenden zwanzig Jahre und auf ihren revolutionären Ausgang.

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(*) Dieser Artikel wurde ursprünglich in »il programma comunista« Nr. 21, 1957, unter dem Titel »7 Novembre 1917-1957. Quarant'anni di una organica valutazione degli eventi in Russia nel drammatico svolgimento sociale e storico internazionale«. Auf Französisch erschien es in »programme comuniste« Nr. 68,1975, unter dem Titel »Le marxisme et la Russie«. Auf Spanisch erschien es in der Broschüre Nr. 3, 2017, unter dem Titel »Cuarenta años de valoración orgánica de los eventos de Rusia en el dramático desarrollo social e histórico internacional« . Auf Dänisch erscheint eine Übersetzung in »Kommunistisk Program« Nr. 7 und 8, 1970, unter dem Titel »De ryska händelserna. Den revolutionära marxismens organiska värdering genom 40 år«.Auf Deutsch gibt es auch eine erste Übersetzung in der Zeitschrift »Internationale Revolution«, Nr. 3, 1969, aber die Übersetzung von 1976 ist richtiger. Top

 

(1) »Soziales aus Russland« (1875) und Nachwort dazu (1894)

(2) »Zwei Taktiken der Sozialdemokratie« in Lenin, »Ausgewählte Werke«, Band 1, Berlin 1970, Seiten 567, 558, 591, 643.

(3) ebd.

 

 


 

 

Einleitung zur zweiten Ausgabe von »Revolution und Konterrevolution in Russland«, 1976

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Als Konzentrat und Zusammenfassung der gesamten Parteiarbeit über Russland bildet »Der Marxismus und Russland« eine fast unerlässliche Ergänzung zu »Warum Russland nicht sozialistisch ist«, zu einer Schrift also, die sich als Einführung in die marxistische Untersuchung der russischen Entwicklung nach 1917 versteht.

»Der Marxismus und Russland« erschien 1957 anlässlich des vierzigsten Jahrestages der Oktoberrevolution, geht aber weit über den Rahmen einer »Festschrift« hinaus, was schon auf die Methode zurückzuführen ist: weit davon entfernt, die »russische Frage« von einem lokalen oder augenblicklichen Standpunkt aus zu betrachten, stellen wir sie in einen internationalen und historischen Rahmen, untersuchen wir sie im Lichte einer internationalen und historischen Perspektive.

Nur indem man die Frage so angeht, kann man die russische Geschichte von der Oktoberrevolution bis heute verständlich machen und gleichzeitig, auf den Fussstapfen der Marxisten der Jahrhundertwende,
»die falsche Auffassung widerlegen, die theoretischen Sätze des historischen Materialismus seien nicht auf Russland anwendbar«. 1951 schrieben wir in »Lehren der Konterrevolutionen«, dass »die Untersuchung der Konterrevolution in Russland und deren Reduzierung auf Formeln nicht die Kernfrage für die Strategie der proletarischen Bewegung in der künftigen revolutionären Kampfwelle darstellen«. Damit wollten wir eben zum Ausdruck bringen, dass eine solche Untersuchung, weit davon entfernt, angebliche »Entdeckungen« und »Neuigkeiten« zu bringen, nur dann Gültigkeit haben könnte, wenn sie auf der Grundlage des vollständig wiederhergestellten Marxismus durchgeführt würde. Wir zeigten damals, dass die marxistische Theorie sowohl die Revolution als auch die Konterrevolution erklärt, und dass unsere praktische Niederlage unter den Schlägen der weltweiten Konterrevolution – und unter dieser Niederlage leiden wir heute noch – gleichzeitig einen theoretischen Sieg enthält. Die Geschichte konnte keine »Fehler« oder »Unzulänglichkeiten« des Marxismus aufdecken, sondern nur diesen vollständig bestätigen. Diese Erklärung und diese Bestätigung gingen aber weit über die »russische Frage« oder die »Untersuchung der Vergangenheit« hinaus: sie implizieren vielmehr die Perspektive der zukünftigen Wiederaufnahme des revolutionären Kampfes im Weltmassstab.

Unsere Untersuchung der russischen Ereignisse und die Gesamtheit unserer Tätigkeit war und ist auf dieses neue Wiederaufflammen der permanenten Revolution im internationalen Rahmen gerichtet.
»Aus diesem Grunde gedachten wir nicht so sehr der vergangenen vierzig Jahre, sondern richteten unseren Blick auf die kommenden zwanzig Jahre revolutionärer Vorbereitung und auf ihren Ausgang«.
Den Leuten, die in der kleinsten sozialen Unruhe bereits die Revolution erblickten und sie verzweifelt immer für den nächsten Tag erwarteten, erschien unsere damalige Vorhersage hinsichtlich der zeitlichen Entfernung der neuen revolutionären Welle viel zu pessimistisch. Sie erwies sich aber als noch zu optimistisch.

Obwohl die erste allgemeine Krise des Weltkapitalismus, die das Ende der Expansionsphase nach dem zweiten Weltkrieg besiegelt, effektiv 1975 ihren Höhepunkt erreichte, also fast genau zu dem von uns 1957 vorhergesehenen Zeitpunkt, hat sie bei weitem nicht alle erwarteten Auswirkungen gehabt. Es handelt sich noch um eine Erschütterung, die das Erdbeben vorbereitet. Die politische Krise, die Ausbreitung von bedeutenden proletarischen Klassenkämpfen und die Rückkehr einer proletarischen Vorhut auf die marxistischen Positionen sind noch verspätet im Vergleich zur Wirtschaftskrise.

Wie wir in »Krise und Revolution« erklärten (1), wird die Vorhersage von 1957 dadurch nicht »widerlegt«, denn es ging uns damals nicht darum, Termine mathematisch zu errechnen. Das Ziel der Prognose war im Gegenteil, einen »punctum minimum«, eine Mindestfrist zu fixieren, vor deren Ablauf es illusorisch wäre, eine allgemeine Wiederaufnahme des Klassenkampfes zu erwarten. Nach der vollständigen Vernichtung der proletarischen Klassenbewegung durch die Konterrevolution, durch den Stalinismus und seine Nebenprodukte, durch die Unterstützung des zweiten imperialistischen Weltkrieges und des Wiederaufbaus der kapitalistischen Wirtschaft ist es notwendig, dass eine tiefe Wirtschaftskrise die Klassenkollaboration materiell vernichtet, damit eine solche Wiederaufnahme und eine solche Rückkehr auf die kommunistischen Positionen möglich werden.

Während sie aber den aktivistischen Voluntarismus bekämpfte, der, in der Hoffnung, die Geschichte zu »forcieren« und zu »beschleunigen«, auf taktische Notbehelfe zurückgreift, die schliesslich zum entgegengesetzten Ergebnis führen; während sie also unter anderem auf diese objektive Bedingung und auf diese Mindestfrist hinwies, bekämpfte unsere Schrift ebenso den fatalistischen Passivismus und erinnerte an die subjektive Bedingung eines siegreichen revolutionären Kampfes: die Wiederherstellung der revolutionären Theorie und der Organisation (weit vor der allgemeinen Wiederaufnahme des Klassenkampfes) einer Kommunistischen Welt- Partei, einer Partei, »die ohne Zögern ihre eigene Diktatur von vornherein anmeldet«.

Die Bewertung der russischen Ereignisse geht also organisch in einen Aufruf zur Vorbereitung der Revolution über, und demzufolge zur Vorbereitung der revolutionären Partei. So ist auch die Behauptung zu verstehen, dass, wenn die nächste geschichtliche Welle der Revolution in Europa nicht zum Sieg führt, »der letzte Marxist vom Erdboden verschwunden sein wird«. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Geschichte der Menschheit dort halten wird. Das bedeutet auch nicht einfach, dass uns dann eine beispiellose Unterdrückung bis auf den letzten Mann ausrotten wird: diese Unterdrückung wäre nichts anderes als die Sanktionierung unserer dann erwiesenen Unfähigkeit. Ein solcher Ausgang würde also dem Nachweis einer Ohnmacht und eines Zusammenbruches unserer Bewegung gleichkommen, die historisch »disqualifiziert« wäre, und das würde einen noch viel tieferen Bruch in der Kontinuität der kommunistischen Bewegung darstellen, als den, der sich aus der Niederlage der revolutionären Welle der zwanziger Jahre ergab.

Diese schroffe Warnung hebt unsere Aufgaben und unsere Verantwortung krass hervor. Die Revolution von morgen muss man heute vorbereiten; man muss die relative Verspätung der sozialen Krise ausnutzen, um die noch grössere Verspätung unserer revolutionären Vorbereitung nachzuholen; man muss seine ganze Kraft dafür einsetzen, um die Partei zu stärken und in der proletarischen Vorhut zu verankern – ohne Voluntarismus, aber mit einem unbeugsamen revolutionären Willen, ohne Aktivismus, aber mit einer unermüdlichen Aktivität, beide fest in den Prinzipien des Kommunismus verankert.

 


 

(1) Siehe »Bulletin der IKP« (»Kommunistisches Programm«), Nr. 1, Juni 1974

 

 

Internationale Kommunistische Partei

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